Howard war schon immer das Kind gewesen, das lieber zu Hause saß und rauchte, als auf dem Spielplatz Fangen zu spielen. Das ganze Konzept des „Draußen seins“ war ihm zutiefst zuwider. Draußen war ein Ort, den man nur mangelhaft kontrollieren konnte. Regen, Wind, Hagel, Schnee – für nichts gab es einen Regler oder Abstellknopf.
Howard hasste die Unberechenbarkeit der Witterung, denn wie alle Nachkommen seiner Familie, hatte er einen stark ausgeprägten Hang zum Frösteln. Genau genommen fror er immer. Es war eine von innen kommende, genetisch bedingte Kälte, die man nur ertragen konnte, wenn man seine Umgebung auf ein Maximum aufheizte. Deshalb hatte Howard neben seiner Fußbodenheizung, den drei Heizkörpern und den mobilen Ölradiatoren auch einen eigenen Kamin in seinem Kinderzimmer. Wenn er nach draußen musste, zog er sich so warm wie möglich an. Für einen Zwölfjährigen besaß er eine beachtliche Auswahl an polartauglicher Funktionskleidung.
Howard hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass es immer wieder Mitschüler gab, die laut auflachten, wenn er noch Anfang Juni im Skianzug in der Schule erschien.
Jeden Morgen zog er sich Membran um Membran über den Körper und ging nach draußen. Howard hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass es immer wieder Mitschüler gab, die laut auflachten, wenn er noch Anfang Juni im Skianzug in der Schule erschien. Doch so seltsam es auch klang: Das Frieren hatte ihn über die Jahre stark gemacht. Jeden Morgen ging er schweigend an den anderen vorbei und setzte sich auf seinen Platz in der letzten Reihe, direkt neben der Heizung. Den Unterricht verfolgte er kaum. Schon vom ersten Tag an, waren ihm die Aufgaben und Themengebiete zu lapidar gewesen. Er stammte aus einer Familie ebenso kluger wie frierender Intellektueller. Seine Ahnen waren hoch angesehene Mathematiker, Philosophen und Freimaurer gewesen. Sie hatten die Grundfesten der Mathematik ins Wanken gebracht, sie hatte ein Vermögen mit mikrotechnologischen Patenten verdient und reichweitenstarke biochemische Waffen entwickelt. Ihr Frieren hatte sie zwar oft von der Außenwelt isoliert, ihren Geist hatte es jedoch immer zu Höchstleistungen angetrieben.
Gleich zu Anfang der ersten Klasse hatte man vorgeschlagen, Howard ein oder sogar mehrere Schuljahre überspringen zu lassen, aber Howard hatte das abgelehnt. Er war bereits alle Lehrpläne bis zur Abiturstufe durchgegangen und wusste, dass ihm auch später keine nennenswerten Stoffgebiete mehr begegnen würden.
Deshalb hatte er beschlossen, zunächst das Leben der einfachen Menschen – wie sie seine Mitschüler und deren Familien zweifelsfrei darstellten – aus ihrer Mitte heraus zu studieren. So saß er Tag für Tag zwischen seinen Altersgenossen, betrachtete sie dabei, wie sie mit rauchenden Köpfen über lachhaften Algebraübungen saßen und gönnte sich hin und wieder einen Schluck Grog aus seiner Dinosauriertrinkflasche.
Im ersten Schuljahr wurde er sogar zu einigen Kindergeburtstagen seiner Mitschüler eingeladen. Doch während die anderen Topfschlagen spielten, zog er es vor, die Bibliotheken der Gastgebereltern zu inspizieren, um dann dem jeweiligen Familienvater zigarrerauchend die Schwachstellen seiner Diplomarbeit zu erläutern. Als sich dieser Umstand herumsprach, wurden die Einladungen weniger und blieben schließlich ganz aus.
Howard beschränkte sich von da an auf eine distanziertere Form der Beobachtung. Sie bestand darin, seine Mitschüler möglichst unauffällig zu betrachten und dabei auf die wenigen faszinierenden Momente zu warten. Die faszinierenden Momente, das waren für Howard vor allem Situationen offen ausgelebter Wut. Howard hatte schnell gelernt, dass Wut eine Art innere Hitze auslöste, die bis zur Schweißbildung führen konnte. Das Tragische daran war, egal wie provozierend und gemein man sich ihm gegenüber verhielt – Howard konnte keine Wut empfinden. Nicht einmal Aufregung. Es kam wie es kommen musste. Howard sehnte sich nach Wut. Howard verehrte Wut. Howard wünschte sich Wut zu seinem achten Geburtstag. Doch seine Eltern schenkten ihm stattdessen eine Sauna.
„Es gibt zwei Dinge, die die Menschen vorantreiben“, hatte ihm sein Vater später bei einem Glas Cognac erklärt, „diese zwei Dinge sind die Wut und die Kälte. Wir haben die Kälte in der größtmöglichen Ausprägung erhalten. Deshalb müssen wir auf die Wut verzichten.“
„Es gibt zwei Dinge, die die Menschen vorantreiben“, hatte ihm sein Vater später bei einem Glas Cognac erklärt, „diese zwei Dinge sind die Wut und die Kälte. Wir haben die Kälte in der größtmöglichen Ausprägung erhalten. Deshalb müssen wir auf die Wut verzichten.“ Howard hatte daraufhin die ganze Nacht wach gelegen und letztendlich beschlossen, dass er diesen Sachverhalt nicht akzeptieren konnte. Er musste handeln. Er musste dem Wesen der Wut viel näher kommen, als alle seine Vorfahren, koste es, was es wolle.
Howard schlief nicht mehr. Abends blieb er an seinem Schreibtisch sitzen und studierte bis zum nächsten Morgen Revolutionsgeschichte, Meutereien, antike Dramen und die Handlungen verschiedener Telenovelas.Tagsüber dachte er sich immer neue Strategien aus, um seine Mitschüler zu Wutausbrüchen zu animieren. So nähte er heimlich Glaswolle in die Sporthemden seiner Klassenkameraden oder er entwickelte Reaktionsketten aus gegeneinander fallenden Schulgegenständen, an deren Ende z.B. die Zertrümmerung einer Polly-Pocket-Einheit stand. Als Anfangsimpuls brauchte es nur den unachtsamen Schritt oder die unüberlegte Bewegung eines Klassenkameraden. Howard musste nie lange warten.
In geheimen Wutprotokollen schrieb er jede noch so kleine Geste, jeden noch so kleinen Laut der Betroffenen exakt auf. Auf diese Weise gewann er viele interessante Erkenntnisse, die er einmal in einem Sammelband veröffentlichen würde. Trotzdem brachte es ihn seiner eigenen inneren Hitze keinen Schritt näher.
Dies änderte sich an dem Tag, an dem er das erste Mal ein öffentliches Schwimmbad aufsuchte. Seine Eltern hatten ihm von Anfang an davon abgeraten. Aus Erzählungen wussten sie, dass es Menschen in einem Schwimmbad nicht gestattet war, wärmende Kleidung zu tragen. Nicht einmal Wollpullover seien möglich, so hieß es. Howard hatte sich daraufhin zu einem Hallenbad im Nachbarviertel begeben und durch die Fenster von draußen hereingeschaut. Diese vielen, nahezu nackt herumlaufenden Menschen hatten ihm Gänsehaut gemacht. Doch er hatte auch sofort das Wut-Potential erkannt, dass so eine Schwimmhalle in sich trug. Es gab Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Geschlechts und vor allem unterschiedlicher Badeinteressen – und sie alle mussten auf engstem Raum miteinander interagieren. Howard war begeistert.
Am Vorabend des Klassenausfluges in die Therme kaufte ihm sein Vater einen dick gefütterten Bademantel. „Zieh den über und halt dich vom Wasser fern“, sagte er mit ernster Miene. Howard nickte. Als er am nächsten Morgen mit seinen Mitschülern die Umkleidekabinen des Bades betrat, trug er den Bademantel schon unter dem Skianzug. Keine Zugluft sollte an seine Haut kommen. Trotzdem war die Kälte, die er empfand, als er nur noch mit dem Frotteestoff bekleidet an den Becken entlang schritt, fast unerträglich. Er spürte, wie er am ganzen Körper zu zittern begann. Mit beiden Händen rieb er sich kräftig über Oberschenkel, Brust und Arme. Noch nie war er so wenig bekleidet an einem so schlecht beheizten Ort gewesen. Aber er musste durchhalten, denn er war dem Wesen der Wut so nah wie nie zu vor. Schon mit dem ersten Blick hatte er sie erspäht, eine kräftige Frau um die fünfzig, eine Bahnenschwimmerin. Sie trug einen türkisfarbenen Badeanzug und schwamm mit gerecktem Hals, damit ihr sorgsam hochgestecktes Haar nicht nass wurde.
Als sie die Schulklasse ins Bad kommen sah, verdichteten sich ihre Augen zu böse funkelnden Schlitzen. Howard war klar: Sie war die Frau, die genügend Wut in sich trug, um damit ein ganzes Schwimmbecken zu beheizen. Er selbst musste gar nicht viel machen. Von der ersten Minute an taten seine Klassenkameraden das, was Bahnenschwimmerinnen am meisten hassten: Sie sprangen fröhlich schreiend vom Rand, kraulten kreuz und quer durch das Becken und starteten raumgreifende Wasserschlachten.
Howard beobachtete, wie die Frau am ganzen Körper zu beben begann. Auf ihrer Haut leuchteten großflächige rote Flecken. Grimmig klammerte sie sich am Beckenrand fest und schaute sich nach der Lehrerin um. In diesem Moment sprangen sieben Jungs gleichzeitig eine Ketten-Arschbombe. Wasserfontänen übergossen die Hochsteckfrisur der Dame. Howard beobachtete, wie sie ihren Mund öffnete, ‚gleich wird sie explodieren‘, dachte er, doch dann riss es ihn selbst um.
Jemand hatte ihn von hinten kraftvoll in Richtung Wasser gestoßen. Es gab keine Möglichkeit, sich festzuhalten. Schutzlos fiel Howard in das Becken mit dem 26 Grad kalten Wasser. Er strampelte, ruderte mit den Armen nach oben, doch die furchtbare Kälte und die Schwere des Bademantels, zogen ihm alle Kraft aus dem Gliedern. Starr und reglos trieb er unter Wasser. Er spürte keine Aufregung, doch er fühlte wie sein Herz immer langsamer schlug. In seltsamer Benommenheit sah er, wie die Welt an Farbe verlor und sich gleichzeitig immer weiter von ihm entfernte. Er nahm kaum noch wahr, dass irgendwer neben ihm ins Wasser tauchte, seine Arme griff und ihn nach oben zerrte.
„Bist du okay?“, fragte die Rettungsschwimmerin, nachdem sie ihn am Beckenrand wiederbelebt hatte. Howard betrachtete ihre seltsam bläulichen Lippen.
„Bist du okay?“, fragte die Rettungsschwimmerin, nachdem sie ihn am Beckenrand wiederbelebt hatte. Howard betrachtete ihre seltsam bläulichen Lippen. Obwohl sie mittlerweile selbst in ein dickes Handtuch eingehüllt war, zitterte sie. „Ja“, antwortet Howard verwundert, und tatsächlich: Zum ersten Mal in seinem Leben, war ihm nicht kalt. Der Zustand hielt fast eine halbe Stunde an.
Von diesem Augenblick an wusste Howard, dass er unbedingt noch einmal wiederbelebt werden wollte. Doch wie sollte er das anstellen? Nichts in der Welt würde ihn noch einmal in dieses eisige Schwimmhallenwasser zurückbringen. Er überlegte einen ganzen Tag und eine halbe Nacht lang, dann fiel ihm etwas ein. Er würde für die Wiederbelebung bezahlen!
Howard zog sich Hut und Mantel seines Vaters über. Sein Gesicht, sah ohnehin nicht aus, wie das eines Zwölfjährigen, doch die seriöse Kleidung ließ ihn noch einmal wesentlich älter wirken. Dann machte er sich auf den Weg ins Rotlichtviertel der Stadt. Er folgte der erstbesten Frau, die sich ihm anbot, mit aufs Zimmer. Als sie versuchte, seinen Mantel zu öffnen, hielt er mit einer Kraft, die ihn selbst verblüffte, ihre Arme fest. Dann presste er seine Lippen auf ihren Mund.
Nach fünfzehn Minuten sackte die Frau in sich zusammen. Ihr Gesicht war schneeweiß. Howard hielt sein Ohr an ihren Mund. Sie atmete noch. Mit einiger Mühe wickelte er sie in eine Decke, legte sie neben die Heizung und verschwand nach draußen auf die Straße. Ein wunderbares Gefühl der Wärme durchströmte seinen Körper. Er fühlte sich plötzlich frei und leicht. Howard begann zu pfeifen und zu singen, er tanzte durch die Straßen, bis er schließlich glücklich und müde in sein Bett fiel.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte seine Mutter am nächsten Morgen. „Alles bestens“, entgegnete Howard und stapfte in seinem Skianzug nach draußen. Seinen Windstopper-Schal ließ er dabei auf der Kommode liegen.
Das Gefühl der Wärme hielt etwa eine Woche an. Danach stand er wieder vor einer rot beleuchteten Eingangstür und ging wieder mit der Erstbesten nach oben. So geschah das noch zwei, drei weitere Male, dann wurden die Türsteher auf ihn aufmerksam. Sobald sie ihn erkannten, ließen sie ihn nicht mehr passieren. Anscheinend hatten sich seine Wiederbelebungstaten unter den Etablissements im Umkreis herumgesprochen.
Die Wochen vergingen und es wurde wieder kalt in Howards Innerem. Noch kälter als je zuvor. Howard zog sich in seine Sauna zurück und kam nur noch zu den Mahlzeiten heraus. Seine Eltern hatte er angewiesen, ihn nicht zu stören. Eines Nachmittags klopfte es trotzdem.
„Es ist Besuch für dich da“, sagte seine Mutter.
Vor der Tür stand die Rettungsschwimmerin. Sie trug eine dicke rotbraune Pelzjacke und eine fellbesetzte Schapka. Draußen mussten ungefähr 20 Grad über Null sein. Howard bot ihr einen Platz auf einem seiner Ölradiatoren an.
„Seit ich dich damals aus dem Wasser gerettet habe, ist mir nicht mehr richtig warm geworden“, sagte sie.
„Das tut mir leid“, sagte Howard.
„Anderseits“, entgegnete die Rettungsschwimmerin, „sehe ich seitdem viele Dinge wesentlich klarer. Ich habe das Gefühl, besser denken zu können.“
Howard fiel auf, wie schön ihre Wangenknochen geschnitten waren. Sie hoben sich klar und entschlossen von ihrem Profil ab und waren gleichzeitig doch von weichem, sanftem Schwung. Während sie sprach, begann sie leicht zu zittern.
„Ich hätte eine Sauna. Und ich kann dir Grog anbieten“, sagte Howard höflich.
Die Rettungsschwimmerin lächelte. Während die Elektrik auf 95 Grad hochheizte, hörten sie draußen das Klingeln des Eismannes.
„Irgendwie ist das alles verrückt“, sagte die Rettungsschwimmerin und lehnte sich im Pelzmantel gegen die Saunawand. „Plötzlich hätte ich Lust, die Zahl Pi bis zur ihrer 327. Nachkommastelle auf einen der Ungarischen Tänze von Brahms zu singen.“
„Geht mir ganz oft genauso“, entgegnete Howard.
„Interessant“, sagte die Rettungsschwimmerin, „nehmen wir Tanz Nummer 5?“
„Der ist der beste“, antwortete Howard und bemerkte, wie in ihm etwas zu wachsen begann. Es war keine Wut, darüber war er sich ziemlich sicher. Trotzdem spürte er, dass da etwas in ihm aufblühte, das eindeutig Wärme verursachte. ‚Das muss ich unbedingt näher untersuchen’, dachte er. Dann sah er das Lächeln der Rettungsschwimmerin und begann zu singen.
Epilog
Noch im selben Jahr promovierten fünf ehemalige Prostituierte im Bereich medizinischer Verfahrenstechnik. Sie entwickelten eine mikrotechnologische Therapie zur Behandlung von Cellulitis. Ihr gemeinsames Vermögen wird von Experten heute auf 30 Milliarden Dollar geschätzt.
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Die Autorin ist Franziska Wilhelm.